Die Wahrheit, meist in Gestalt der so genannten objektiven Realität bzw. einer objektiven Wahrheit, war ein Kernbegriff der Philosophie des Marxismus-Leninismus, der alles beherrschenden politischen Ideologie der SED. Die Frage nach der Wahrheit bestimmte direkt oder indirekt den Alltag in der DDR und aller ihrer Bürger.
Eine der Grundannahmen respektive grundsätzlichen Behauptungen des Marxismus-Leninismus war die, dass es jeweils eine spezifische, gewissermaßen einzige Wahrheit gäbe. Dies bezog sich nicht unbedingt analog zu den monotheistischen Weltreligionen ("es gibt einen Gott") auf eine einzige, alles erklärende Tatsache, obwohl der Marxismus-Leninismus unbestreitbar auch religiöse Züge trug.
Vielmehr lag die Ursache im Standpunkt Marx', Engels' und Lenins, dass die Welt grundsätzlich erkennbar sei - und zwar sowohl hinsichtlich der Naturgesetze als auch der Gesetze der Gesellschaftsentwicklung. Vereinfacht beinhaltete dies die Schlussfolgerung, dass es auf alle Fragen nach der Natur der Dinge eine Antwort gäbe, die ggf. komplex ausfiele oder noch nicht gefunden sei, aber mit Gewissheit dem menschlichen Geist (dem Bewusstsein) zugänglich.
Bemüht man den Vergleich mit den Religionen, so hatte diese Fixierung auf eine Wahrheit vielleicht die größte Ähnlichkeit mit der Frage nach der Existenz oder dem Wesen Gottes. Denn schließlich läge diese Wahrheit (bzw. objektive Realität) außerhalb des Bewusstseins, existierte also z.B. unabhängig von der menschlichen Erkenntnis. Die Wahrheit wäre demnach eine praktisch nicht hinterfragbare Kategorie über den anderen philosophischen Kategorien - als Eigenschaft der Materie und qualitativ über der Materie stehend, als Zustand oder Fakt, und sogar unabhängig von der Frage nach ihrer Veränderbarkeit.
1.) Wahrheit ist die "philosophische Kategorie, welche die Adäquatheit der Erkenntnis, ihre Übereinstimmung mit dem Erkenntnisobjekt, widerspiegelt".
2.) Objektive Wahrheit sind die "in Aussagen, Theorien usw. formulierten Erkenntnisse, die nicht vom Menschen ... abhängig sind, sondern als adäquate Widerspiegelung der objektiven Realität einen objektiven Inhalt besitzen".
3.) "In der Erkenntnis erlangen wir objektive Wahrheit, aber das ist keine ... ewige, absolute Wahrheit, ... denn die Erkenntnis der W. ist ein Prozeß der unendlichen Annäherung des Denkens an das Objekt, das immer tiefer und genauer erkannt wird." Die Erkenntnis der absoluten Wahrheit vollzieht sich "durch die Erkenntnis immer neuer relativer Wahrheit(en)".
4.) Objektive Realität ist "die materielle Welt, die unabhängig und außerhalb vom menschlichen Bewußtsein existiert", gleichbedeutend mit Materie, "materielle Welt", "objektive Wirklichkeit".
(Quelle: Kleines Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Philosophie, Dietz Verlag, Berlin, 1974.)
Diese sperrigen Konstruktionen hatten einen gemeinsamen Nenner: die Definition und Vereinnahmung von Wahrheit und Realität im Sinne des Marxismus-Leninismus, der als "einzige wissenschaftliche Weltanschauung" gleichsam die Krönung aller Wissenschaften sein sollte.
Diese Lehre war eine grobe Vereinfachung der Erkenntnistheorie. Sie ermöglichte die Vorwegnahme und Einordnung von wissenschaftlichen Resultaten ohne deren genauere Kenntnis, da quasi alles schon "vorhergesehen" und nur eine Frage der Zeit war - sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Gesellschaftsentwicklung (Endpunkt Kommunismus). Dies hatte fatale Folgen für die Entwicklung der Wissenschaft und in letzter Konsequenz auch für jeden in der DDR sozialisierten Bürger.
''Beispiele:
- Psychologie als "Problemwissenschaft"
Die Psychologie führte in der DDR ein Schattendasein und spielte in den 50er und 60er Jahren praktisch keine Rolle. Es gab ab etwa 1961 kaum mehr als eine Handvoll Studienplätze an der HU Berlin und nur wenige Lehrkräfte - bezeichnenderweise war der "Psychologiepapst der DDR", Prof. Klix ?, wegen seiner SED-"Qualifikation" auf den Lehrstuhl gelangt.
Hintergrund war die diffuse, doch nicht ganz unberechtigte Furcht der SED-Funktionäre und -Bildungspolitiker (die mehrheitlich wenig gebildet waren), dass just die Psychologen bei ihrer Ergründung der Seele die Unhaltbarkeit des offiziellen Wahrheitsbegriffs en passant nachweisen könnten. Dies änderte sich erst ab Beginn der 70er Jahre.
- Behinderung von Forschung
Für eine Wissenschaftskarriere war aktive, bejahende Beschäftigung mit dem Marxismus-Leninismus Pflicht. Vertreter der "unpolitischen Wissenschaft" wurden nach Möglichkeit aus ihren Positionen entfernt oder von wichtigen Vorhaben ferngehalten. In vielen Fällen hat das die Forschung behindert, weil eher mit Kadern vorlieb genommen wurde, die sich durch weltanschauliche Festigkeit hervortaten.
Eines von vielen Beispielen dafür ist der tragische Fall des vom MfS im OV ? "Molekül" bearbeiteten Prof. Hartmann. Dieser hatte als Leiter der AMD ? in Dresden visionäre Ideen zur Entwicklung von Quantencomputern veröffentlicht (im Jahre 1973!) und war dadurch in Konflikt mit dem Realitäts- und Wissenschaftsbegriff der SED geraten.
Welche Einbußen die DDR-Forschung durch die Bevorzugung "zuverlässiger" Kader erlitten hat, lässt sich im Nachhinein natürlich nur schwer sagen.
Welch zentrale Rolle die Wahrheit im Marxismus-Leninismus spielte, lässt sich nicht zufällig an der Bezeichnung des Zentralorgans der KPdSU ablesen. Dieses Blatt war ähnlich wie das ND der DDR für seine langatmigen theoretischen Exkurse berüchtigt und hatte im übertragenen Sinne sehr wohl den Anspruch, die "Wahrheit" zu verkünden - sozusagen aus erster Hand.
- Wahrheit in der Volksbildung und die Folgen
Die folgenschwerste Perzeption des überzogenen und gleichzeitig unfundierten Wahrheitsbegriffs erfolgte in der Volksbildung und durch die damit einhergehenden Sozialisationsmechanismen. Wer in der DDR zur Schule ging, wuchs in dem Glauben an eine letztlich immer prüfbare Wahrheit auf, selbst wenn die offizielle politische Ideologie als irrelevant bzw. als falsch angesehen wurde.
Das hatte weit reichende Konsequenzen, von dem z.B. durch die Grenzbefestigungen und durch die offenbare Allmacht der SED und des MfS beförderten Gefühl der Ausweglosigkeit, bis hin zu den spezifischen Erscheinungen der Kritik und Selbstkritik ? gegenüber dem Kollektiv (Pionier-/FDJ-Gruppe, Brigade, SED-Grundorganisation etc.). Wahrhaftigkeit war in der DDR erste Bürgerpflicht.
Dadurch wurde allerdings eine Gegenkultur begünstigt, die sich in allen nicht unter das "Wahrheitsmonopol" der SED fallenden Bereichen ausbreitete. Auf die einzelnen Erscheinungen kann hier nicht eingegangen werden. Der philosophische Begriff der Wahrheit war zwar nach der Lehre des Marxismus-Leninismus nicht zu verwechseln mit dem Wahrheitskriterium (d.h. Wahrheit/Unwahrheit einer Aussage). Über den Umweg der stets betonten Anwendbarkeit der Gesellschaftswissenschaft im sozialistischen Alltag verwischte sich die Grenze jedoch schnell.
Während und nach der Wende wurde denn auch den Vertretern der Opposition von westlicher Seite ein "naives Verhältnis zur Wahrheit" vorgeworfen. Obwohl diese Dissidenten ? die Scheinwahrheiten der SED-Ideologie mehrheitlich ablehnten, stellten sie die Existenz einer übergeordneten Wahrheit an sich nicht in Frage.
Dadurch entstanden seltsame Allianzen zwischen früheren Gegnern, die einen aus der Opposition, die anderen aus der SED/PDS: Beide Seiten wollten die DDR als sozialistischen und demokratischen Staat erhalten, oder zumindest als "gescheitertes, aber gut gemeintes Experiment" verstanden wissen. Die Berechtigung oder das marxistische Fundament der Ideologie wurde kaum in Frage gestellt.
Demgemäß gab es während der Wende auch unzählige Aufrufe zur Aufdeckung der "Lügen" und der "Bereicherung" der alten SED-Kader. Die Probleme des sozialistischen Staates mussten wegen der höheren Wahrheit auf einzelne Personen zurückgeführt werden. Dass die DDR dennoch nicht am Amtsmissbrauch Einzelner oder etwa - salopp gesagt - an den "luxuriösen" West-Armaturen in Wandlitz zugrunde ging, war für die Masse der Bürger ein kaum zu verkraftender Schock.
Schließlich setzte sich die unbewusste Wirkung des jahrzehntelang als Selbstverständlichkeit hingenommenen Wahrheitsbegriffs in den Biographien nach der Wiedervereinigung fort: Der leicht zu übertölpelnde und leicht zu kränkende Ex-DDR-Bürger wurde BRD-weit zum Klischee. Es gab dazu in den 90er Jahren nur wenige ernsthafte Untersuchungen, dennoch ist anzunehmen, dass es vielfach tatsächlich die anerzogene Wahrhaftigkeit war, die den ehemaligen DDR-Bürgern einen erfolgreichen Start in der neuen Gesellschaft verunmöglichte.
Die in der DDR erlernten Umgehungsstrategien waren im politisch indifferenten Alltagsleben der BRD nutzlos, da hier die Frage nach einer (höheren) Wahrheit allenfalls untergeordnete Bedeutung hatte und in den Bereich des Privaten fiel - ganz im Gegensatz zur DDR.
Zusammenfassend muss gesagt werden, dass der Begriff Wahrheit in der DDR sowohl in seiner philosophischen Funktion, als auch in praktischen Fragen der Lebensgestaltung eine zentrale Rolle spielte. Die philosophisch eigentlich unhaltbare Einengung seiner Bedeutung sowie die Vereinnahmung durch die SED-Ideologie des Marxismus-Leninismus führten zu einer Überbewertung, die sich im Rückblick nur schwer beschreiben lässt. Die von vielen Bürgern zunächst unterschätzte oder hingenommene Einschränkung des Denkens und der Mündigkeit durch die vom Staat geförderte Entdifferenzierung der so genannten Wahrheit bereitete den Weg für die erwünschte Polarisierung der Gesellschaft und die Ausgrenzung Andersdenkender. Natürlich kann diese Erklärung nicht für alle negativen Erscheinungen und Folgen des Lebens in der DDR herhalten. Trotzdem korrespondierte der Wahrheitsbegriff und seine Anwendung vielfältig mit anderen Mechanismen der Disziplinierung.
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