Hinter dem Begriff Reisekader verbarg sich eines der höchsten Privilegien innerhalb der DDR-Gesellschaft: Die zeitweilige oder dauerhafte Erlaubnis zu Westreisen, nach Westberlin, in die BRD oder ins restliche NSW.
In aller Regel handelte es sich dabei um berufliche Angelegenheiten, also um Reisen im Auftrag des Betriebs, einer wissenschaftlichen oder einer sonstigen staatlichen Einrichtung.
(Private) Besuchsreisen zu Verwandten im westlichen Ausland fielen nicht unter die Reisekader-Tätigkeit, was nicht ausschloss, dass bestätigte Reisekader (s.u.) evtl. eine bessere Ausgangsposition und höhere Chancen auf eine Privatreisegenehmigung hatten als die restlichen DDR-Bürger. Allerdings gab es keine vorgesehene Abfrage des Reisekader-Status o.ä., wenn man eine private Westreise beantragte.
Die Reisekader stellten nur einen verschwindend geringen Teil der Bevölkerung: Nach Angaben von Horst Roigk aus der MfS-Hauptabteilung XVIII waren es ca. 40.000 Personen. Es gab - wie bei vielen staatlichen Entscheidungen - nur "informelle" Voraussetzungen für den Erwerb des Reisekader-Status:
- Es musste ein Bedarf vorliegen.
D.h. der Betrieb, die Hochschule, das Institut etc. musste eine konkrete Aufgabenstellung haben, die eine Westreisetätigkeit erforderte bzw. unumgänglich machte.
- Der Kandidat musste "zuverlässig" sein.
Künftige Reisekader mussten ihre "politisch-ideologische Zuverlässigkeit", möglichst einen "festen Klassenstandpunkt" oder Äquivalentes an den Tag gelegt haben. Mindestvoraussetzung war die Einschätzung der Vorgesetzten, dass der Kandidat nach erfülltem Auftrag auch wieder in die DDR zurückkehrte. Die Bestätigung als Reisekader war folglich ein Vertrauensbeweis.
Daher war der Anteil der SED-Mitglieder an der Gesamtzahl der Reisekader sehr hoch. Dennoch handelte es sich in seltenen Fällen um nachgerade "unpolitische" Menschen - etwa Wissenschaftler mit seltener Spezialisierung. Die Entscheidung hing vom staatlichen Leiter und von der Parteileitung ab; bei Einrichtungen mit geringer Personaldecke hatten "Nicht-Genossen" bei fachlicher Eignung tendenziell eine bessere Chance als in Großbetrieben.
- Es mussten die nötigen Devisen vorhanden sein.
Dieser Punkt wurde von Außenstehenden oft vernachlässigt. Doch bei der Entscheidung, einen Mitarbeiter ins westliche Ausland zu entsenden, war die Bereitstellung von "Valutamitteln" häufig der springende Punkt. Kombinate mit eigener Devisenerwirtschaftung hatten größere Spielräume, anders dagegen viele Forschungseinrichtungen: Hier wurde mitunter um DM-Pfennigbeträge gefeilscht, wenn es um Bahnfahrten u.ä. ging.
- Es durften keine Hinderungsgründe vorliegen.
Nahe Verwandtschaft mit BRD-Bürgern, außerdienstliche Westkontakte usw. waren potenzielle Hinderungsgründe. Ein Geheimnisträgerstatus (VVS ?- oder GVS ?-Verpflichtung) war entgegen manch anderer Darstellung kein absoluter Hinderungsgrund. Bei erwiesener (oder vermuteter) Zuverlässigkeit wurden durchaus auch Geheimnisträgern aus sensiblen Bereichen (z.B. Mikroelektronik-Industrie) Westreisen gestattet.
Zum Reisekader musste man vorgeschlagen werden, etwa vom Vorgesetzten (in seltenen Fällen auch von anderer Stelle, etwa bei größeren Vorhaben). Gab es seitens der Partei-Organisation und der Leitung des Betriebes bzw. der Einrichtung keine Einwände und waren die oben angeführten Punkte erfüllt, so erfolgte die Bestätigung als Reisekader.
Diese Tatsache schlug sich in der Kaderakte nieder. Bestätigte Reisekader hatten in bestimmten Fällen bessere Karrierechancen - einerseits wegen der bereits erfolgten Einstufung und andererseits wegen der stets hilfreichen Einschätzung der "politischen Zuverlässigkeit". Im Außenhandel, z.B. in vielen Firmenbereichen der KoKo, war der Reisekader-Status sogar Einstellungsvoraussetzung.
Die wesentlichste administrative Auswirkung war die Ausfertigung eines Reisepasses, über den der "Durchschnittsbürger" in der Regel nicht verfügte. Allerdings wurde der Reisepass auch dem Reisekader selbst meist nicht dauerhaft ausgehändigt. Typischerweise wurden die Pässe der Reisekader in einem Tresor bei der Betriebs- oder Institutsleitung aufbewahrt, vor Reiseantritt übergeben und mussten danach wieder abgeliefert werden.
Das Reisekader-Privileg konnte jederzeit ohne Angabe von Gründen wieder entzogen werden, etwa bei Familienstandsänderungen oder bei Zweifeln an der "Zuverlässigkeit" des Betreffenden.
Wichtige Probleme der Reisekader-Thematik:
Nach Zugänglichwerden der Stasi-Unterlagen wurde von vielen Ex-IM die Entschuldigung vorgebracht, sie hätten "nach Westreisen natürlich Berichte schreiben müssen". Dies könnte zu der Annahme verleiten, dass jeder Reisekader ein (potenzieller) IM des MfS gewesen sei.
Dieser Eindruck und diese Darstellungsweise sind prinzipiell falsch. Selbst von den Reisekadern des hochgradig MfS-durchsetzten Bereichs KoKo war nur ein geringer Teil als IM tätig (so genannte Reisekader-IM, RK-IM). Wer solche Berichte schrieb, konnte sowohl abschätzen, wie brisant oder interessant diese waren (und d.h. an wen sie gingen), als auch mittels entsprechender Schwerpunktsetzung den Bedarf des "Publikums" bedienen. Außerdem verpflichteten sich IM explizit (siehe dort).
- Sicherheitsüberprüfungen (SÜ) durch das MfS.
Entgegen mancher Mutmaßung wurden bei weitem nicht alle Reisekader vor der Bestätigung durch das MfS überprüft. Die in den meisten Fällen zuständigen Abteilungen der MfS-Hauptabteilung XVIII (z.B. die XVIII/5 oder XVIII/8) besaßen nie die entsprechende Personalkapazität. Trotzdem wurden seitens des MfS große Anstrengungen unternommen, um die Reisetätigkeit wenigstens in Grundzügen zu kontrollieren - etwa bei VVS ?/GVS ?-Verpflichteten.
Es galt hierbei das Prinzip: Wer in den Augen der Parteileitung die nötige Reputation hatte, der brauchte sich um die SÜ weniger Gedanken zu machen. Die SED-Organisation wirkte so vielfach als "Vorfilter".
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