Das Lagezentrum des Militärnachrichtendienstes (Mil-ND) befand sich in dessen Hauptsitz in Ost-Berlin, Oberspreestraße 61-63.
Zum Verständnis des folgenden Erlebnisberichts wird auf den Artikel Lagezentrum Mil-ND verwiesen. Der Autor des Erlebnisberichts möchte nicht namentlich erwähnt werden.
Lagezentrum, 9. November 1989, 18:00 Uhr
Die Schicht als Diensthabende im Lagezentrum der Verwaltung Aufklärung der NVA bestand aus drei Offizieren. Nichts sprach dafür, dass irgendwelche Besonderheiten auftreten könnten. Die neu eingeführte DDR-Pressekonferenz und die gerade laufende NATO-Stabsübung SHAPE waren für uns Routine.
Lagezentrum, 9. November 1989, 18:30 Uhr
Die Aufzeichnung der neuerdings täglich durch das DDR-Fernsehen ausgestrahlte Pressekonferenz lief (der Mitschnitt lief auch), wir hörten nebenbei mit. Gleichzeitig bereiteten wir den Mitschnitt der Nachrichtensendung heute des ZDF vor.
Lagezentrum, 9. November 1989, kurz vor 19:00 Uhr
Wir sind fertig für die Aufnahme von heute (ZDF). Mit halbem Ohr hörten wir Schabowskis Ankündigung der neuen Reiseordnung in der Pressekonferenz: Wir waren sofort hellwach! Instinktiv wußten wir: Es wird nichts mit einer ruhigen Nachtschicht: Hier tut sich was!
Ich glaube mich erinnern zu können, daß bereits
Punkt neunzehn Uhr heute (ZDF) mit
genau diesem geschichtsträchtigen Satz
die Sendung begonnen hat - allerdings mit ungläubigem
(da mit der heißen Nadel gestricktem) Kommentar.
Lagezentrum, 9. November 1989, ca. 19:15 Uhr
Den Lageoffizieren wurde klar, dass es ein Problem gibt: Ab Morgen soll ein regelmäßiger Grenzübertritt möglich sein. Aber es gab keinerlei Vorinformationen für die staatlichen Organe!
Lagezentrum, 9. November 1989, ca. 19:30 Uhr
Den Lageoffizieren wurde an Hand der eingehenden Meldungen klar, was schon an diesem Abend losgehen könnte, da sowohl der SFB als auch N3 sofort Kamerateams an die Grenzübergangsstelle Zarrentin in Mecklenburg und das Brandenburger Tor entsandten. In ersten Fernsehkommentaren der Westsender wurde gesagt, dass die DDR-Bürger mit dem Personalausweis an die Grenze zu kommen und einfach zu versuchen sollten, nach Westberlin zu kommen.
Lagezentrum, 9. November 1989, ca 20:00 Uhr
Live liefen die Bilder von den ersten sich bildenden Schlangen an der Grenze zu Westberlin über den Bildschirm. Uns stellte sich natürlich schon die immer banger werdende Frage, wie lange das noch gutgehen soll: Immerhin wurden aus einigen Hunderten dann Tausend - ihnen gegenüber die Grenzposten mit unterladenen MPi's.
Unsere telefonischen Nachfragen beim Grenzkommando Mitte, ob sie alles im Griff haben, wurde gegen 20.30 Uhr ungläubig mit
"Was ist denn los?" beantwortet.
Lagezentrum, 9. November 1989, nach 22:00 Uhr
Die Bandmaschinen liefen sich heiß: Alle Sender berichteten in Sondersendungen.
Auf die immer drängender werdenden Fragen der GSSD und unserer Botschaften ? konnten wir nur die eine Antwort geben: "Keine diesbezüglichen Befehle".
Gegen 23.25 Uhr war es wohl:
Der erste Schlagbaum an der Bornholmer Straße
ging hoch. Wir kabelten in die Welt:
"Grenzregime außer Kontrolle".
Nur in unserem Ministerium war zu der Zeit
keiner der Chefs zu erreichen.
Der Minister irgendwo unterwegs,
der Chef des Hauptstabes nicht zu kriegen,
unser eigener Chef irgendwo mit seinem Auto unterwegs,
der AL im Theater - jedenfalls keiner da!
Lagezentrum, 10. November 1989, ca. 00:30 Uhr
Telefonat mit dem Chef des Hauptstabes: "Jungs, bleibt ruhig und legt Euch schlafen!"
An Schlafen war nicht zu denken - aber auch nicht an das Nachdenken über die große Weltpolitik.
Als Resümee bleibt eigentlich nur, daß es wie ein Wunder war, daß keiner zur Waffe gegriffen hat, offensichtlich keiner mehr wollte, daß auf den "Roten Knopf" gedrückt wurde - obwohl das "Rote Telefon" nur Zentimeter entfernt stand.
Wir drei sahen einfach nur zu, wie sich in diesen wenigen Stunden die Welt veränderte ...
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